Donnerstag, 30. Juli 2015

Projekt: Weniger Verpackung - weniger Müll: Nachbarschaft |Teil 7/12

Vor einiger Zeit überkam mich das Bedürfnis in meiner Nachbarschaft mehr Menschen kennenzulernen. Als ich noch im 2. Bezirk in Wien wohnte war ich eng mit einigen Nachbarn befreundet. Wir haben gemeinsam im Garten gegrillt, die Fußball-EM mit dem Beamer an die Hausmauer projiziert geschaut, wenn einer von uns was gebraucht hat, halfen wir einander aus. Mit den Leuten bin ich noch immer befreundet, aber ich vermisste dieses Gemeinschaftsgefühl in nächster Nähe.
Und genau an dem Tag fand ich einen Brief im Postkasten:


Allein schon die Tatsache einen handgeschriebenen, wenn auch kopierten Brief im Postkasten zu finden, läßt mein Herz höher schlagen. Handgeschriebene Briefe haben ja leider so einen Seltenheitswert mittlerweile - und da muss ich mich selber natürlich auch an der Nase nehmen - dass die Geste als solches schon besonders ist.
Die Website habe ich mir natürlich gleich angesehen und war schnell davon überzeugt, dass das was für mich ist.

Aber was hat das jetzt mit meinem Projekt Weniger Verpackung - Weniger Müll zu tun? Sehr viel! Zum Beispiel habe ich gerade meine Küche neu ausgemalt und das ausschließlich mit Weitergebenem aus der Nachbarschaft. Abgesehen von der finanziellen Ersparnis mussten diese Nachbarn sich nicht um die Entsorgung von Wandfarbe, Abtönfarbe und diversem Abdeckmaterial kümmern und es fiel durch mich kein zusätzlicher Müll an, da ich für meine kleine Küche, für die ich nicht mal einen halben Kübel Wandfarbe gebraucht habe, nichts extra kaufen musste was eben den doppelten Müll verursacht hätte.
Außerdem besitze ich kein Auto und daher ist ein Ausflug in den Baumarkt für mich immer ein größerer Aufwand. Die Nachbarn wohnen alle im Umkreis von fünf Gehminuten von mir entfernt und innerhalb eines Nachmittages hatte ich alles was ich brauchte um meine Küche im neuen Glanz sonnengelber Streifen erstrahlen zu lassen.

Dieser Artikel hätte also auch heißen können: "Wie man seine Küche renoviert ohne einen riesigen Müllberg zu verursachen." Aber dann habe ich mich dafür entschieden den Fokus des Themas auf das zu legen, was mir tatsächlich das größere Anliegen in dem Zusammenhang ist.


Über fragnebenan.at erlebe ich nämlich eine menschlich berührende Hilfsbereitschaft, sei´s durch Ratschläge, Treffen, Kuchenabgabe, weil man soviel davon gebacken hat, dass man selber tagelang daran essen würde und daher lieber teilt, Gemeinschaftsbestellungen direkt vom Bauernhof, Katzenbetreuung im Urlaub, Austausch mit anderen Eltern, Öffnung des eigenen Gartens, Organisation von Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge, und und und, von der ich dachte, dass es das in der Stadt einfach nicht (mehr) gibt.
Wenn ihr mich fragt haben die Gründer von fragnebenan.at den Friedensnobelpreis verdient!

Apropos Gründer. Ich hatte vor Kurzem die Freude den Mann hinter der Idee von fragnebenan.at kennenzulernen und zu interviewen: Stefan Theißbacher ist 33 Jahre jung und hat dieses Projekt vor zwei Jahren ins Rollen gebracht. Zu den weiteren Gründungsmitgliedern von fragnebenan.at gehören Mathias Müller, der Entwickler der Plattform, Andreas Förster, Designer der Seite und Valentin Schmiedleitner, der sich um  die Stakeholder Relations kümmert.

Das eigentliche Interview dauerte fast zwei Stunden. Manche Unterhaltungen sind so spannend, dass man die Zeit vergisst. Das ganze Interview würde hier also eindeutig den Rahmen sprengen, daher beschränke ich mich auf die Highlights.

Stefan Theißbacher
Foto: ©Martin Pabis
Seit wann gibt es fragnebenan.at?
Wir machen das jetzt seit zwei Jahren. Die Idee ist im Sommer 2013 entstanden. Zuerst war nur ich, dann hab ich begonnen an der Idee zu arbeiten, dann Leute zu suchen, im Oktober hat sich dann das Team gefunden und dann wurde zu programmieren begonnen und online gegangen sind wir am 30. Mai 2014. Zuerst aber nur in ein paar Bezirken. Begonnen hatten wir überhaupt nur im 7. [Bezirk] und haben dann schrittweise mehrere dazugeholt und seit 20. Jänner 2015 sind wir in ganz Wien. Das war vor allem deshalb weil wir schaun wollten, ob´s überhaupt funktioniert, ob´s die Leute verstehen und wollen.

Wie kamst du auf die Idee?
Aus zwei Gründen. Das eine war, dass ich zu der Zeit schon seit eineinhalb Jahren in einem Gründerzeithaus im 17. Bezirk gewohnt hab und mit Ausnahme meines Mitbewohners niemanden gekannt hab im Haus. Ich hab zwar "Hallo" gesagt, wenn ich jemanden gesehen hab am Gang, aber das war´s schon. Irgendwann hab ich mir gedacht, dass das komisch ist. Ich würde draußen auf der Straße, wenn ich Nachbarn aus dem Haus begegne, nicht mal wissen, dass sie bei mir im Haus wohnen. Und ich hab dann begonnen darüber nachzudenken, dass das eigentlich arg ist wieviel Potential da links liegen gelassen wird und dass man sich den Alltag sehr viel leichter machen könnte, wenn man sich zumindest ein bissl kennt. Ich hab dann auch gemerkt, wenn mir mal was ausgegangen ist, zum Beispiel, ich tu mir dann nicht leicht irgendwo anzuklopfen und drum zu fragen, vor allem wenn´s vorher überhaupt keinen Kontakt gibt, weil wenn ich mich zuerst nicht vorstellen komme, dann möchte ich auch nicht der sein, der sich dann das erste Mal meldet, wenn er was braucht. Das war so das Eine. Also eigentlich wär´s schön wenn man sich so ein Stück weit als Gemeinschaft betrachtet in der Nachbarschaft. Das kommt auch daher, ich komm aus einem kleinen Ort in Kärnten. Und da war das halt ganz anders. Wir haben ein kleines Gasthaus gehabt, da haben wir sowieso alle gekannt. Ich hab gemerkt man fühlt sich dann auch mehr zu Hause, wenn man die Leute kennt. Und das Zweite war, dass ich mich zu der Zeit auch beruflich umorientieren wollte und dann hab ich viel über sharing economy und Verleihen gelesen und hab mir dann gedacht, dass die zwei Themen voll gut zusammenpassen. Also ich bin ursprünglich von dem Verleihthema gekommen. Ich mein, ich könnt von meinen Freunden sicher fünf oder zehn Bohrmaschinen aufstellen, wenn ich eine brauchen würde, aber die sind halt über die ganze Stadt verteilt und im Haus, da waren 25 Parteien, da gibt´s wahrscheinlich 20 Bohrmaschinen, da wär´s doch cool wenn man einfach einen Stock tiefer gehen könnte um eine auszuborgen. Und das hat sich dann zu einer Idee verbunden. Und dann hab ich mir gedacht, Verleihen setzt schon einiges an Vertrauen voraus und vielleicht geht´s mal darum zuerst den Kontakt herzustellen, sodass man die Hürde senkt und die Kommunikation ermöglicht.

Heute Abend ist ja ein Nachbarschaftstreffen hier im Grätzl…
Ja, das freut uns besonders. Wir organisieren auch Nachbarschaftstreffen, aber so wie in dem Fall [Anm.: das Treffen wurde spontan von einer fragnebenan.at Nachbarin organisiert] finden sich da einfach total schnell Leute, die da dabei sind, und das ist dann schon besonders cool wenn das was ist, das jetzt gar nichts mit uns direkt zu tun hat, also wo nicht wir als Plattform sagen, wir initiieren hier was, sondern es einfach von den Leuten selber ausgeht.
Für mich ist das einfach total schön zu sehen wie das Projekt wächst, wie da die Leute dazukommen. Wir haben jetzt schon 12.000 Nutzer in ganz Wien. Aber was noch viel schöner ist, wenn man einfach mit Leuten redet, die das nutzen und die dann erzählen: "Voll cool, ich hab da wen kennengelernt im 7., da gibt´s eine Spieleabendegruppe, die extrem gut funktioniert."
Oder ich hab letztens [über fragnebenan.at] gefragt, ob mir für eine Freundin die mich besuchen kommt, jemand ein Fahrrad borgen kann und dann haben innerhalb von ein paar Stunden vier Leute geschrieben. Drei davon wollten mir ihr Rad borgen, und die Vierte hat geschrieben, dass wenn das Rad wieder zurückgegeben ist,  würd sie sich das gerne ausborgen. Die hat also auf den Ersten reagiert. Und ich hab dann am Freitag noch diejenige getroffen, die mir das Rad geborgt hat. Das war überhaupt kein Problem, ich mein, die hat mich ja nicht gekannt, wir haben kurz gequatscht, sie hat dann gesagt sie ist jetzt auf Kur drei Wochen und braucht das Rad dann nicht, also das war einfach perfekt.
Das sind alles so Sachen, da geht´s nicht darum, dass man Dienstleistungen vermittelt oder füreinander arbeitet, sondern dass man sich einen Gefallen tut.

Menschlich sein.
Wir sehen einfach die Motivation sich bei fragnebenan.at anzumelden ist nicht, weil die Leute sich denken, da kann ich mir ein Geld ersparen, sondern das Interesse daran, dass man sich in der Nachbarschaft einfach kennenlernt und mal aushilft.

Ich hab so ja eine Nachbarin im Haus kennengelernt, die sonst einfach zu ganz anderen Zeiten rausgeht oder heimkommt, und der ich so einfach noch nicht begegnet war.
Ja, wir hatten ja ursprünglich gedacht, dass das Haus da so im Zentrum stehen wird und vielleicht die unmittelbare Umgebung drum herum kommt halt dazu und wir haben dann relativ schnell gemerkt, dass es eben nicht so leicht ist in einem Haus zehn Leute zu überzeugen, dass sie da jetzt mitmachen. Und die ersten Nutzer haben da viel darüber auf fragnebenan.at darüber geredet und eine Nutzerin hat dann erzählt, dass das egal ist, ob die Leute jetzt aus dem selben Haus oder drei Häuser weiter sind. Und sie meinte so, da hat sie das Gefühl, dass sie so die netten Leute aus der Nachbarschaft kennenlernen kann.

Wenn ich auf fragnebenan.at registriert bin, wie weit geht mein Radius meiner Nachbarschaft?
Was wir nicht vorhaben mit fragnebenan.at Facebook zu ersetzen. Der Kreis welche Leute erreicht werden ist klar eingeschränkt. Das Haus, das ist immer das Zentrum, und davon ausgehend ein Radius von 750m. Das heißt man kann sich mit den Leuten vernetzen, die man zu Fuß in 10-15 Minuten erreichen kann. Bei Gruppen ist das anders, da gibt´s stadtweite Gruppen, zum Beispiel gibt´s eine Paragleitergruppe, da gibt´s in der direkten Nachbarschaft nicht so viele die in der Gruppe drin sind, aber über die Gruppe sind dann auch die Leute aus anderen Gebieten von Wien erreichbar. Aber wenn du was in deiner Umgebung postest, dann sehen das nur die Leute innerhalb deines Radius.

Welche Leute sind auf fragnebenan.at?
Vielseitig, aber wir sehen auch, es gibt zwei große Gruppen. Das sind einerseits junge Familien und andererseits Leute, die gerade frisch in der Pension sind mit deutlicher Mehrheit an Frauen. Wir hatten immer gehofft, genau die zu erreichen, aber dachten, das wär total schwierig, aber wir sehen dass es gerade da großes Interesse gibt. Eben um Kontakte, besonders in der direkten Umgebung zu knüpfen.

Welche Themen beschäftigt die Leute besonders?
Nachbarschaftshilfe ist total wichtig. Also was ausborgen, oder wenn wer krank ist, dass man was aus dem Supermarkt mitnimmt, Fahrgemeinschaften haben sich schon gebildet. Und von einem Haus im 2. hat mir wer erzählt, da hat eine Nutzerin viel zu viel Pizzateig gemacht und dann im Hausbereich gepostet, dass sie was abgeben könnte, und dann haben so zwei andere in ihrem Haus auch noch Pizza an dem Tag gehabt.

Genial.
Ja, und Empfehlungen sind auch ganz wichtig. Handwerker, oder zu welchem Arzt man geht. Also da ist einfach total viel Wissen, Alltagswissen und da hoffen, dass wir da noch mehr draus machen können.

Was habt ihr für Zukunftspläne für und mit fragnebenan.at?
Nach und nach die Seite immer besser zu optimieren. Die kleinen Fehler, die´s noch gibt alle auszumerzen. Schaun, was sind die Fragen, die Bedürfnisse und was kann fragnebenan.at machen um dabei zu unterstützen.

Das Gründungsteam:
Valentin Schmiedleitner, Mathias Müller,
Stefan Theißbacher, Andreas Förster
Foto: ©Helena Wimmer

So, ich wieder…. hab noch abschließend was zu sagen ;)
Seid offen für eure Nachbarschaft, lernt Menschen kennen. Die meisten freuen sich, wenn die Anonymität etwas weniger wird. Es gibt unzählige Vorteile die nicht nur jedem Einzelnen, sondern auch der Umwelt zugute kommen, weil man gemeinsam z.B. Großmengen kaufen und aufteilen kann, wodurch viel Müll gespart wird. Mitfahrgelegenheiten sind jedenfalls besser als wenn jeder sein eigenes Auto hat. Wenn Lebensmittel geteilt werden, statt sie verkommen zu lassen um sie dann wegzuschmeißen, geht das sogar noch in ein größeres Miteinander über.

Mir geht es nicht um utopische weltverbesserische Ideen, sondern um etwas, das jeder Einzelne für sich selber machen kann um das Leben und vielleicht tatsächlich die Welt ein kleines bisschen schöner zu machen.
Egal ob ihr euch einfach mal in eurem Grätzl umschaut um zu sehen, welche Gemeinschaftsprojekte es gibt, im Kaffeehaus mit Menschen redet oder fragnebenan.at nützt, in jedem Fall kann diese Offenheit eine Bereicherung sein und die Lebensqualität positiv beeinflussen. Bei mir ist es jedenfalls so :)

Foto: ©Helena Wimmer

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